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Gewöhnung wirkt Wunder?

„Zeitung in der Schule“-Projekte sollen Lesernachwuchs bringen

von Michael Bechtel, Bonn

(Original-Beitrag veröffentlicht in: Bertelsmann Briefe 138/1997)

 

Zu einem Bündnis mit den Schulen hat der in Deutschland populäre amerikanische Medienphilosoph Neil Postman 1992 aufgefordert. Sie müßten sich in ihrem Überlebenskampf viel kosten lassen, so Postman auf einem Zeitungskongreß in Mainz. Der Zuspruch auf Bestellung erscheint überflüssig. "Zeitung und Schule"-Projekte sind längst Klassiker, bei vielen Verlagen gehören sie zum festen Programm. Ständig kommen neue Zeitungen dazu, und sogar Grundschüler sind mittlerweile im Visier der Leseförderungsprojekte. Mit dem Geldausgeben freilich ist das eine andere Sache. Da lässt sich ein Verleger im Zweifel die kostenlos verteilten Zeitungsexemplare doch lieber von einem Sponsor bezahlen und weist die überlastete Lokalredaktion an, einen Redakteur zur Betreuung abzustellen.

 

Bald 20 Jahre liegen die ersten Ansätze zurück: Über 400 000 Schüler in etwa 20 000 Klassen haben seit 1979 an "Zeitung in der Schule" des Aachener Institut zur Objektivierung von Lern- und Prüfungsverfahren (IZOP) teilgenommen. IZOP hat das Projekt mit dem Bundesverband der Deutschen Zeitungsverleger entwickelt. Seither hat sich wenig geändert: Mit medienkundlichen Handbüchern, projektvorbereitenden und -begleitenden Seminaren, einem Fernlehrgang für Lehrer sowie Arbeitsmaterialien für Schüler bietet IZOP das anspruchsvollste und teuerste Programm. Neben dem klassischen Projekt für die Klassen acht bis zehn ist eine Variante für die Klassen drei und vier (in Berlin: drei bis sechs) im Programm.

 

Jeder Schüler bekommt seine eigene Zeitungsausgabe, soll täglich Zeitung lesen können - auch in der Freizeit. Und das über eine Projektdauer von zwölf Wochen, denn erst mehrmonatige Gewöhnung mache eine gewinnbringende Nutzung des Mediums möglich und erfahrbar. Die aktuellen Ereignisse des näheren und weiteren Umfeldes, über welche die Zeitung berichtet, sollen in diesen drei Monaten intensiv in den Unterricht einbezogen werden. IZOP empfiehlt, eine Projektredaktion einzurichten: Sie hilft den Schülern, Geschichten zu recherchieren und Berichte zu verfassen, die dann in der Zeitung veröffentlicht werden. Ein so aufwendiges Vorgehen leisten sich FAZ, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Rundschau, aber auch viele Regional- und Lokalzeitungen.

 

Promedia (Alsdorf /Kreis Aachen) bietet seit 1989 nichtstandardisierte Konzepte zur Leseförderung für eher kostenbewußte Verlage an. Sie können zwischen einer Projektdauer von vier, sechs oder maximal acht Wochen wählen. Das Blatt wird vor Projektbeginn analysiert, das begleitende Unterrichtsmaterial darauf zugeschnitten. Das Promedia-Team informiert die Schulaufsichtsbehörden, präsentiert das Projekt in den Schulen und erstellt eine Abschlußdokumentation, d.h. es entlastet die Redaktionen fast vollständig von der Organisation.

 

Ansonsten ist alles wie üblich: Zielgruppe sind Schüler der achten bis zehnten Jahrgangsstufe. Differenzierungen für leistungsstärkere und schwächere Schüler sind eingebaut. Die Klassen recherchieren Beiträge, die in der Zeitung veröffentlicht werden. Nach Absprache kommen Redakteure der in die Klassen, Besuche im Verlagshaus sind möglich. Als Ergänzung bietet Promedia für die fünfte bis siebte Jahrgangsstufe das Konzept "Zeitungsflirt"-Arbeitszeitung an. Dabei betrachten die Schüler mit einer Arbeitszeitung Inhalte der Tageszeitung. Promedia bietet ferner Internet-Projekte an, um die online-Nutzung als Ergänzung zur Zeitungsnutzung vorzustellen. Das Team betreut derzeit rund 30 Zeitungsverlage unterschiedlicher Größe, darunter das Projekt "Schüler & Zeitung online" der Berliner Morgenpost.

 

Der "Zeitungstreff" des media consulting teams (mct) stellt die praktische Arbeit mit der Zeitung in den Mittelpunkt. Die Schüler recherchieren und verfassen eigene Artikel für die Zeitung. Wie bei den anderen Projekten auch, erhalten sie über vier bis sechs Wochen täglich die Zeitung. Die Lehrer erhalten Begleitmaterial und die Redaktion wird von der Organisation weitgehend entlastet. Der besondere Reiz für viele Zeitungen: mct ist ein Team von Journalisten, Wissenschaftlern und Pädagogen und bietet eine wissenschaftliche Begleitung. Die Schüler füllen einen Fragebogen aus, in dem sie freiwillig und anonym Kritik am Blatt formulieren und Verbesserungsvorschläge für die Berichterstattung machen. Die Ergebnisse sollen Hinweise für die Weiterentwicklung der Zeitung liefern.

 

4 319 Fragebögen aus neun Projekten zeigten, so mct, dass der "Zeitungstreff" ein großes Potential bei den Schüler wecke: 80 Prozent von ihnen hätten bekundet, Spaß beziehungsweise viel Spaß gehabt zu haben. Fast 70 Prozent hätten sich danach besser über das Weltgeschehen informiert gefühlt, 73 Prozent meinten, mehr über das Lokale zu wissen, und 60 Prozent gaben an, die Zeitung habe ihnen Gesprächsstoff für die Unterhaltung mit Freunden geliefert. Besonders die Praxisangebote seien gut angekommen, an erster Stelle das Artikelschreiben. 52 Prozent der Schüler wollen weiter für die Zeitung schreiben.

 

Die Alternative zu teuren Instituten: Die Zeitung organisiert das Projekt selbst. Anke Vehmeier beispielsweise betreut als Redakteurin der Oberhessischen Presse in Marburg das Projekt "Schüler schreiben für die OP". Seit elf Jahren bekommen von Anfang Februar bis zu den Osterferien rund 700 Schüler täglich die Zeitung. Sie lesen, recherchieren und schreiben Beiträge, die veröffentlicht werden - jeder Klasse steht eine Seite zur Verfügung. Die Lehrer verbringen vor Projektbeginn eineinhalb Tage in der Reaktion, erhalten eine theoretische Einführung und müssen selbst einen Beitrag recherchieren, schreiben und auf einer Konferenz den Journalisten "verkaufen". Dann wissen sie, so Anke Vehmeier, welche Arbeit es ist, einen Artikel zu schreiben und was sie ihren Schülern zumuten können.

 

Bei den selbstgestrickten Projekten gibt es viele Varianten. Einige Verlage erstellen eine Extra-Beilage mit den Schülerartikeln. In einigen Häusern gibt es Bemühungen, mit den Schülerartikeln ins Internet zu gehen und auf diesem Weg Jugendlichen die Zeitung näher zu bringen. Das Solinger Tageblatt präsentiert das Projekt als Ausgabe ihrer Zeitung. Alle Ressorts sind vertreten, die Aufmachung entspricht dem Erscheinungsbild der normalen Zeitung. Die Schüler schaffen ein Produkt, das sie begeistert  herumzeigen und aufbewahren werden.

 

Gerade bei dieser Begeisterung aber setzen kritische Fragen an. Dass solche Projekte sich positiv vom Schulalltag abheben, ist keine Frage. Der Klassenbesuch des Redakteurs ist ein Highlight für Schüler, Lehrer und Redakteure. Und wenn am Ende des Besuchs ein Zwölfjähriger sagt: "Sie sind echt cool", dann geht auch der Redakteur mit einem guten Gefühl nach Hause. Ein noch größeres Erlebnis ist es für Schüler, als Reporter zu recherchieren, Leute zu interviewen und dann den Artikel in der Zeitung zu lesen. Mag sein, dass Nachwuchsförderung für die Presse zu den wichtigsten Ergebnissen der Projekte gehört.

 

Ob junge Leute ohne entsprechende Prädisposition aus dem Elternhaus in größerer Zahl an das Medium Zeitung herangeführt werden, erscheint dagegen eher fraglich. Wenn in Remscheid ein halbes Jahr nach dem mct-Projekt in 60 Prozent der Schüler angaben, regelmäßig die Zeitung zu lesen (vor Beginn des Projektes 41 Prozent) - so hat das Projekt wohl eher das Wissen um die soziale Erwünschtheit des Zeitungslesens befördert. Welche Diskrepanz bei normativ besetzten Fragestellungen zwischen Aussagen und tatsächlichem Verhalten besteht, ist bekannt. Allensbach hat in seiner Auftragsstudie für die Zeitungsverleger "Junge Leser für die Zeitung" festgestellt: "Einen starken und dauerhaften Einfluss auf das Zeitunglesen hat auch die Schule". Harte Zahlen dafür gibt es nicht.

 

Natürlich auch nicht für die skeptische Gegenposition. Aber aus all den vielen empirischen Jugendstudie lässt sich ableiten, dass die Distanz Jugendlicher zu Politik und gesellschaftlichen Institutionen wächst. Die Tageszeitung mit ihrem Informationsschwerpunkt auf Politik gehört zu diesen gesellschaftlichen Institutionen. Es wäre höchst erstaunlich, wenn diese in einer Welt bunter Bilder aufgewachsene, in Teilen enorm auf Spaß, Kicks und realitätsferne Gegenwelten fixierte Generation mit so einfachen pädagogischen Mitteln an ein eher langweilig-seriöses, inhaltsschweres Medium „gewöhnt“ werden könnte.

 

 

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