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Texten für den Bildschirm

von Michael Bechtel (Bonn)

Ein Artikel am Bildschirm liest sich mühsamer als der gleiche Texte in einer Druckversion. Und die Nutzer von Online-Medien sind ungeduldig. Das hat vielfältige Konsequenzen für Textstruktur und Sprache von Online-Artikeln. Wer meint, diese müssten nur kurz und einfach sein, macht es sich zu einfach.

Versuchskaninchen waren 131 Studenten: Sie füllten Fragebögen zu den Themen „Sterbehilfe“ und „Schulintegration“ aus; lasen dazu je zwei Texte aus dem Wochenmagazin „Time“ – zum Teil als Zeitungsausschnitt, zum Teil am Monitor. Nach der Lektüre wurden sie wieder befragt. Ergebnis der  Studie der Ohio State University im Sommer 2000: Am Bildschirm war der gleiche Text weniger gut verstanden worden und hatte die Einstellungen der Leser weniger beeinflusst als die Zeitungsversion.

Ob die Testpersonen erfahrene Computernutzer sind, spielt keine Rolle. Die Leiterin des Experiments, Karen Murphy, glaubt, dass wir Strategien entwickeln, um Texte zu verstehen und zu erinnern. Wir sind jedoch nicht in der Lage, die an Printtexten gelernten Strategien auf Computertexte umzusetzen.

Wenig Wissen über Lesen am Bildschirm

Über die Validität solcher bislang meist qualitativ angelegter Studien mag man streiten. Die Online-Leserforschung steht am Anfang, und da die Mühlen der Forschung langsam mahlen, wird es dauern, bis wir über die Netz-Surfer ähnlich viel wissen wie über Zeitungleser.

Immerhin: Erste Erkenntnisse deuten in die gleiche Richtung, und es gibt Überraschungen. Das Internet ist wohl doch ein Lesemedium. Eine Studie der Stanford University und des angesehenen Poynter-lnstitute untersuchte das Verhalten von 30 Frauen und 37 Männern, alle erfahrene Internet-Nutzer. 40 Stunden surften sie nach Belieben, dabei wurden ihre Augenbewegungen von einem Computer und einem Kamerasystem verfolgt.

Ergebnis: Online-Leser sind textfixierter als die Zeitungs- oder Zeitschriftenleser. Fotos und Grafiken, für Printseiten wichtige Eye-catcher, spielen eine untergeordnete Rolle; Animationen, die mehr als eine Sekunde laufen, werden als störend empfunden. Schon deswegen, weil sie oft langsamer geladen werden als der Text. So achtet der stets eilige User auf Rubriken, Überschriften und Anreißer. Erst dann kommen Fotos und Grafiken – oder auch nicht: Oft ist der nervöse Mausfinger schon in Aktion getreten.

Gezielte Suche nach Information

Die Testpersonen nutzten das Netz, um sich zu informieren. Die meisten leben ohne Tageszeitung, schauen kaum TV-Nachrichten, hören hin und wieder Nachrichten im Radio. Ein desinteressierter Personenkreis? Im Gegenteil! Laut Poynter-lnstitute nutzen die meisten das Internet seit ein oder zwei Jahren als Informationsmedium.

Personalisierte Newsseiten mögen sie nicht – „sie könnten etwas Wichtiges verpassen.“ Artikel mit Lokalbezug waren für 48 Prozent wichtig. 80 Prozent lassen sich von Kriminalität und Katastrophen ködern, 70 Prozent klickten sich in Sport-Rubriken ein.

Die Zahlen sind nicht repräsentativ und kaum von Belang. Die Grundbotschaft ist es wohl: Das Internet ist ein Informationsmedium, auch hierzulande. Bei Jugendlichen hat es schon Zeitung und Fernsehen den Rang abgelaufen.

Online-Leser haben keine Zeit

Internet-Nutzer sind äußerst ungeduldig. Schon die Pointer-Studie zeigte: Versierte User haben meist mehrere Browser-Fenster parallel geöffnet, um die Wartezeiten zu verkürzen. Sie konsumieren unterschiedlichste Inhalte in kürzester Zeit. Von einer Linearität der Rezeption kann kaum die Rede sein.

Nur 25 Prozent der Nutzer bleiben länger als 60 Sekunden auf einer Seite. Im Schnitt sind sie nach 25 Sekunden weg, wirkt die Homepage unübersichtlich, geht’s noch schneller. Dann werden die Inhalte nicht einmal geprüft. Das ergab 2001 eine repräsentative Studie des Kieler Marktforschungsinstituts Dr. Parge & Partner. 587 Internet-Nutzer zwischen 14 und 59 Jahren waren beim Surfen mit versteckten Videokamera und mittels AVI (Verhaltensbeobachtung auf Basis objektiver Videoaufzeichnung) aufgezeichnet worden.

Die wichtigen Inhalte einer Seite müssen auf einen Blick wahrnehmbar sein, heißt es in der Studie. 78,9 Prozent der Nutzer „zappen“ sich nämlich durchs Netz. 55 Prozent davon bevorzugen das „Menüscanning“, das schnelle Aufrufen und Beenden von Menüpunkten. „Sitehopping“, das Springen von Seite zu Seite, praktizieren 39 Prozent.

Für die Konzeption einer Site heißt das: Übersichtlichkeit ist Trumpf. Kein überflüssiger grafischer Schnickschnack, Finger weg von Popups und allen  technischen Spielereien, die die Ladezeit verlängern. Was heißt es für die Textgestaltung?

Lesen am Bildschirm ist anders

Ob wegen des kaum merklichen Flimmerns, des ungewohnten Formats oder der unbequemen Arbeitshaltung: Am Bildschirm liest man langsamer. 20 bis 30 Prozent – die Zahlen differieren, aber die Sache ist unstrittig: Lesen macht mehr Mühe.

Noch etwas ist anders: Unser Blick scannt blitzschnell eine Zeitungsseite mit ihren vielen Blickfängern und Angeboten: Bilder, Headlines, Bildzeilen. Mickrige 20 Zeilen bilden den Textausschnitt am Monitor. Mehr hat der Leser nicht im Blick – dazu ein paar Menüpunkte und Teaser. „Blättern“ geht nicht, er kann die nächste Seite aufrufen. Wer von einem längeren Text mehr sehen will, muss „scrollen“. Das ähnelt eher der Lektüre von aufgerollten Papyri oder Pergamenten in der Antike – ein Verfahren, das nicht ohne Grund vor 1500 Jahren durch das Buch abgelöst wurde.

Nur ein kleiner Teil der User scrollt über die Information hinaus, die sofort auf dem Schirm erscheint. Auf Navigationsseiten entscheiden sie sich zwischen den sofort sichtbaren Alternativen. Lange Texte werden schnell abgebrochen. Ausnahme: Leser, die etwas für ihre speziellen Interessen gefunden haben. Wer sein Ziel erreicht hat, liest auch mehrere Seiten Text. Es muss nur spannend und gut verständlich sein.

Kurz ist nicht immer gut

Printtexte einfach ins Internet zu stellen geht also nicht. Das hat sich (außer bei den Online-Verantwortlichen vieler Zeitungen) herumgesprochen. Ein radikal einfacher und prägnanter Informationsstil ist gefragt. Oft wird dies mit der Forderung nach radikaler Kürze verwechselt: Texte für den Bildschirm sollten jene paar Zeilen nicht überschreiten, heißt es, die auf einen Screen passen.

Das ist der falsche Schluss aus einer richtigen Beobachtung: Online-Leser sind nicht ungeduldig und springen blitzschnell, weil sie nicht lesen wollten, sonder weil sie auf einer meist zielgerichteten Informationssuche sind. Am Ziel angekommen, verlangen sie Substanz. Dann wollen sie verwertungsorientiert möglichst viel wissen –über den Weltwirtschaftsgipfel, die Funktionsweise einer Wärmepumpe oder die Biografie ihres Pop-Stars.

Kürze um jeden Preis wird dem nicht gerecht. Die Devise: so kurz und prägnant wie möglich. Doch das ist nicht typisch fürs Online-Texten und kann je nach Thema und Zielgruppe zu recht umfangreichen Texten führen.

Tiefergehende Informationen sind durchaus möglich. Die Lösung liegt zum Teil in der Technik des Mediums selbst: Sinnvolles Themensplitting und Verlinkung erschließen auch komplexe Themen. Das Netz hat Platz für das kurze Informationshäppchen wie für die vertiefte Aufbereitung. Da bedarf es weder des Telegramm-Stils noch der Bleiwüste. Wohl aber eines verschärften Bemühens um Einfachheit und Verständlichkeit.

Einfachheit als Prinzip

Weil das Lesen am Bildschirm mühsamer ist, hat der Schreiber noch mehr Arbeit, um es seinem Leser so einfach wie möglich zu machen. Das betrifft die Inhalte wie die Sprache. Lieblos hingeschluderte Berichte mit ihrem üblichen Ballast an Blähwörtern, ihren zu langen, unnötig komplizierten Sätzen und ihren vielfältigen Ungenauigkeiten liegen schon wie Mehltau über dem deutschen Blätterwald.

Auf den Bildschirm übertragen, schlägt das User in die Flucht ohne Wiederkehr. Ein Grund, wenn auch nicht der einzige, für die notorische Erfolglosigkeit der Online-Auftritte vieler Tageszeitungen. Die Chefs der einschlägigen Content-Abteilungen sollten mit Qualitätskontrolle und intensivem Texttraining für Abhilfe zu sorgen.

Einfachheit und Leichtverständlichkeit sind auch von Inhalten abhängig. Hier bietet das Internet neue Möglichkeiten: Der Journalist wird zum Didaktiker – er kann ein Informationspaket schüren, das von der knappen, leicht verständlichen Grundinformation bis hin zur fachlichen Vertiefung für den Interessierten reicht.

Vom linearen zum modularen Aufbau

Einen einzigen Text zu schreiben, ist deshalb (außer bei aktuellen Kurznachrichten, fast immer falsch. Der Versuch muss scheitern, den Leser entlang eines roten Fadens der Logik oder der Assoziation durch einen umfangreicheren Text führen zu wollen. Texte für den Bildschirm sollten nicht linear, sondern modular aufgebaut sein. Sie bestehen aus Textmodulen, die in einer plausiblen Hierarchie zueinander stehen. Jedes hat einen eigenen Informationsschwerpunkt und eigenen Leseanreiz – ist also als eigener Text konsumierbar.

Modularer Textaufbau ist in den Printmedien nicht unbekannt: Hauptartikel, Kurzinterview im Kasten, Bild mit Bildlegende, Erläuterung von Fachbegriffen, Zitate als Zwischenüberschriften und, und, und... alles auf einer Seite. Im Online-Medium geht die Modularisierung weiter: Der „Hauptartikel“ des Printmedium wäre als Einstiegstext meist viel zu komplex. Einsteg ist eher ein „Teaser“ –Grundinformation in einfachster und knappster Form und zugleich Einladung zum Weiterlesen.

Das Prinzip Regieanweisung

Wir sind gewöhnt, Sachverhalte von außen nach innen zu erforschen. Der Leser bewegt sich mit Links vom Einstiegstext in vertiefende Module und kann weitere Verästelungen ansteuern. Das lässt sich technisch auf verschiedenen Wegen umsetzen: Man kann die Module innerhalb eines Dokuments belassen und mit textinternen Sprungadressen arbeiten, so dass der User auch per Scrollen durch das Informationsangebot gehen kann. Man kann ausgehend von einem zentralen Text die Module in neuen Dokumenten anlegen, die sich per Mausklick öffnen. Auch die Verbindung beider Wege ist oft sinnvoll.

Aber das ist hier nicht Thema und nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass der eilige, verwertungsorientierte Leser das Informationspaket aufschnüren kann. Dazu braucht er an zentraler Stelle frühzeitig kurze, präzise Regieanweisungen, was er hier tun kann. Er muss schnell wissen, um das es geht. Und es muss die Chance haben, für sich Entscheidungen zu treffen: Nein, ich will nicht die Vorgeschichte und die Hintergründe wissen – mich interessiert nicht, was es genau damit auf sich hat: Ich will nur die Stellungnahme der Gewerkschaften oder der Kirchen dazu lesen.

Der Online-Journalist kann seine Leser nämlich noch weniger bevormunden als sein Kollege bei den Printmedien. Und er bekommt die Quittung für seine Leistung sofort: mit der Zahl der Hits, mit der Quote gewissermaßen.

zuerst veröffentlicht in:                                                     

:     Initiative Tageszeitung e.V. (Hrsg.): Redaktion 2002. Almanach für Journalisten. Bonn 2002